Seriously mad but quite normal: Die Illusion des Seins

11. November 2012

Die Illusion des Seins

Seltsame Beobachtung


Die Mittagssonne fiel durch das Dachfenster in das spärlich möblierte Studio. Die Wände waren in nüchternem Weiß gehalten, der Boden mit einem trist grauen Teppichboden ausgelegt. Entlang der größten Wand verlief ein weißes Regal, das Hunderte und Aberhunderte von Büchern aller Art enthielt, in dem aber immer wieder auch kleine Ölbilder standen. An Möbelstücken fanden sich nur eine orange-rote Rècamiére, die unter der Dachschräge dem Regal gegenüber stand, ein kleiner Beistelltisch unbestimmten Alters aus Kirschbaumholz, sowie - direkt unter dem Dachflächenfenster - ein großer, ausladender Sessel, der mit einem kupferfarbenen Stoff bezogen war, und eine relativ hohe Rückenlehne sowie breite Armlehnen aufwies. Die Armlehnen waren ebenfalls aus Kirschholz gefertigt. Ansonsten war der Raum leer. Keine Bilder, nur eine blanke Glühbirne, die von der Decke hing, keine Blumen, keine weiteren Möbel oder Dekorgegenstände, nichts. Gar nichts.

Dennoch hörte man einen monotonen, irgendwie unangenehmen Singsang, der aus der Mitte des Raumes zu kommen schien. Eine schlanke, fast dürre männliche Gestalt war völlig nackt an den Sessel gefesselt und hatte sich wie eine Schlange zusammengerollt. Dieser junge Mann, Roger, war es, der die seltsamen und nicht gerade wohlklingenden Töne von sich gab. Es war eine trockene, stickige Hitze im Raum, die Sonne brannte auf seinen nackten Körper. Er hatte die Augen geschlossen und machte nicht den Eindruck, dass ihm seine Lage wie auch seine Situation im Mindesten unangenehm wäre. Roger schien eher entspannt, ruhig, ja fast vergnügt zu sein. Nach einer Weile brach das sonderbare Singen ab. Eine kurze Pause folgte, in der er anscheinend irgendwelche Atemübungen machte, und nun fing Roger an zu rezitieren. In schneller Folge gab er diverse lyrische Werke offenbar unbekannter Dichter in gut einem halbem Dutzend nicht bekannter Sprachen wieder. Man verstand kein Wort, nur die Laute und die Sprachmelodie waren Anhaltspunkte dafür, wann ein neues Werk in einer ebenfalls neuen Sprache seinen Anfang nahm. Die Auswahl folgte keinem erkennbaren System und schien völlig willkürlich zu sein. Nach kaum zehn Minuten hörte auch das Rezitieren auf und ging in ein zusammenhangloses, unartikuliertes Gebrabbel über. Gleichzeitig begann Roger sich zu winden und seinen Körper wie eine Gummipuppe zu verdrehen. Dabei gab er zwischendurch kurze, spitze Schreie von sich. Und nach einer geraumen Zeit hatte er sich aus seinen Fesseln herausgewunden. Er stand wie selbstverständlich auf und ging an das Regal. Dort fasste er in ein leeres Fach. Durch einen geheimen Mechanismus öffnete sich an der Rückwand eine Klappe. Roger fasste hinein und zog kurze Zeit später ein Whiskeyglas und eine verkorkte Karaffe hervor, die offensichtlich Branntwein enthielt. Er schenkte sich zwei Fingerbreit davon ein, stellte die Karaffe zurück und schloss die Klappe. Mit dem Glas ging er zum Dachfenster, öffnete es und steckte den Kopf  und die Schultern hinaus. Laut pfeifend schien er das sich ihm bietende Panorama oder die Aussicht zu genießen, wozu er schlürfend immer wieder von seinem Getränk nippte. Als Roger das Glas geleert hatte, stellte er es auf dem Kirschholztischchen ab. Er ging erneut ans Regal und griff sich aus einer der oberen Regalreihen ein schweres, in Leder gebundenes Buch. Danach ging er zur Rècamiére, legte sich auf die Seite und begann am Ledereinband des Buches wie ein Hund zu schnüffeln. Dabei gab Roger Laute von sich, die eher daran denken liessen, dass er sich durch eine Pralinenauswahl probierte; offenbar bereitete ihm sein Handeln pures Wohlgefallen. Schließlich schlug er das Buch auf, vorsichtig und mit spitzen Fingern. Und wieder gab er seinem Behagen mit etlichen grunzenden Lauten deutlich Ausdruck. Auf dem Titelblatt war in alten, verschnörkelten Lettern der geheimnisvoll verschrobene Titel des Werkes zu lesen: 

DIE ILLUSION DES SEINS  
Berichte aus der Scheinwelt der Existenz 


Der Name des Autors war Rako Fyre Flamwell. Ein Verlag oder eine Jahreszahl waren nicht angegeben. Doch es handelte sich hier  offensichtlich um ein sehr altes, aus Pergament gefertigtes Buch. Das Titelblatt war mit goldenen Lettern bedruckt, obwohl sich einem eher der Eindruck aufdrängte, es handele sich hier um eine Handschrift. Roger blätterte weiter und rief dabei, deklamierend wie ein Schauspieler: "Nun, alter Meister Rako, wir wollen sehen, ob ihr Recht behalten werdet. Mit Eurem Erstlingswerk 'Von der Absenz des Sinnes - Erfahrungen einer vergeblichen Suche" habt ihr mich überzeugt. Doch nun ist es um Vieles schwieriger, Eure Beweisführung nicht nur theoretisch zu fundieren, sondern auch zu zeigen, dass alles Sein tatsächlich nur Schein, Vorstellung, Wahn und Suggestion ist. Ich freue mich darauf, Euch vielleicht zu widerlegen. Nun denn, ich will beginnen! Seht Euch vor, ich werde unerbittlich jeder noch so kleinen Spur, jedem Hinweis, jeder Ahnung folgen, von der mir scheint, sie sei geeignet, Euch der Widersprüchlichkeit, der Ungenauigkeit, der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu zeihen." Das alles sagte er und blickte dabei auf eine Stelle des Raumes, als stünde dort der Angesprochene. Aber Roger war die einzige, zumindest die einzig erkennbare oder sichtbare, Person im Raum. Er begann zu lesen und der Raum, das Dachstudio, begann zu verschwimmen. Die Konturen zerflossen und alles schien, als blickte man durch dichten Nebel. Es war, als ob sich die Grenzen von Raum und Zeit, von Hier und Jetzt, verschoben oder verändert hätten. Alles fing an seltsam unwirklich zu werden. Wieder hörte man Roger eine seltsame Melodie summen. Und man spürte - zuerst fast unmerklich, langsam intensiver werdend - ein Zittern durch die Welt gehen. Und dieses zunehmende Zittern des Bodens war Ergebnis eines Schrecken erregenden, fürchterlichen Brüllens, das weder aus einer menschlichen Kehle, noch aus dem Rachen irgendeinen bekannten Tieres stammte. Dieser infernalische Laut schien aus einer anderen Dimension zu kommen und sich unserer Welt zu nähern. Doch über diesem anschwellenden Gebrüll klang glockenhell das wiehernde Lachen von Roger.

Ob eine Fortsetzung folgt oder ob die Welt vergeht, sich als Schein und Trug erweist, das wissen allein die Götter. 
Wer neugierig ist, mag diese fragen.

© drago 2012


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