Seriously mad but quite normal: Eine Stunde im Leben von Frau H. - Teil 1

22. August 2013

Eine Stunde im Leben von Frau H. - Teil 1



Die gute, aber geplagte Frau H. haben wir ja schon kennengelernt (HIER). In den wilden und ziemlich verrückten 70er-Jahren unterrichtete sie an einer Kleinstadtschule irgendwo in Deutschland, an welcher Unvorstellbares geschah. Ihr ohnehin nicht einfaches Leben (als Lehrkraft und auch so) wurde damals so ziemlich unfassbar schwierig. Die alten Werte verloren, wie es schien, ihre Geltung, und diese wilde Generation von Schülern, die ihr zugemutet wurde, stellte - und da war sich Frau H. mit vielen Kollegen einig - alles bisher Dagewesene an Verkommenheit meilenweit in den Schatten. Manchmal war es so schlimm, dass es über ihre Kräfte zu gehen drohte. Schon mehrfach hatte sie sich krank gemeldet, weil ihre Nerven dieser extremen Belastung einfach nicht standhielten. Als ob der Lehrerberuf an sich nicht schon ein hartes Los wäre, schien ihr die Vorsehung zusätzlich noch diese Ausgeburten der hintersten Hölle - auch "Schüler" genannt - in den Weg geschickt zu haben.

Wieder einmal führte sie die Pflicht in jene verfluchte Klasse, deren sogenannten Schülerinnen und Schüler die wohl ausgeflippteste Ansammlung von seltsam verrückten und aufsässigen Kreaturen waren, welche die menschliche Zivilisation - soweit Frau H. das zu beurteilen sich im Stande sah - jemals heimgesucht hatten. Und auf ihre Person schien sich dieser wilde und abartige Haufen in besonderer Weise geradezu eingeschossen zu haben. Aber sie hatte beschlossen, dass etwas geschehen musste. Es konnte so nicht länger weitergehen. Heute würde sie eine Coolness und Autorität an den Tag legen, dass diese Irren sich nur wundern würden. Ein "Opfer" ihres Angriffs hatte sie auch bereits ausgewählt. Es war ein aufmümpfiger und renitenter Quälgeist, der sein blaues Wunder erleben sollte. Es wäre doch gelacht, wenn Reife, Lebenserfahrung, Ausbildung und Alter diesen unreifen und bösartigen Fratzen nicht haushoch  überlegen wären. So schritt sie grimmig durch das Schulgebäude in Richtung Klassenraum. 

Schon von ferne drang ein nur als infernalisch zu bezeichnender Lärm an ihr Ohr. Und das, obwohl die Tür zum Klassenraum geschlossen war. Vermutlich waren diese Vollkretins sowieso alle halb taub. Mit energischem Griff riss sie die Türe auf. Auf einem der vorderen Tische saß auch schon das "auserwählte Opfer" - wie immer in einer zerrissenen Jeans, die von Aufnähern übersät und vollgekrakelt war, einem schwarzen T-Shirt, in dessen linkem Ärmel eine Packung Zigaretten steckte, und einer Weste mit einer Jaguarfellzeichnung als Muster. Wo mochte er diese ungemein hässlichen Klamotten nur herhaben, und warum ließen Eltern ihren Nachwuchs in einem derart verunstalteten Aufzug überhaupt aus dem Haus? Aber egal, - heute war er fällig! Sie bellte ein knurriges "Guten Morgen!" in die Klasse, ging stracks auf den Delinquenten zu und sagte: "Du da! Raus! Und zwar sofort. Du störst sowieso nur. Also, - Abmarsch!" Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und begab sich an ihren Tisch. Der Kerl schien keineswegs irritiert zu sein, sondern entgegnete, indem er lächelnd den Raum verließ: "Selbstverständlich. Wie Sie wünschen, Frau H., Auf Wiedersehen!"

Durch die Klasse ging eine Mischung aus andächtigem Raunen und leichtem Murren. Denen hatte sie es aber gezeigt. So ging man mit ihr nicht mehr um. Und so begann sie ihren Unterricht wie berauscht von ihrem eigenen Erfolg und jener Macht, die sie als die schlicht am längeren Hebel Sitzende ausgewiesen hatte. Die Stunde verlief im Wesentlichen nicht anders als alle bisherigen. Ein paar wenige Schüler, jene raren Ausnahmen eben, die wussten, was ihr Status als "Schüler" von ihnen verlangte, folgten sowohl ihren Ausführungen als auch ihren Anweisungen. Und der Rest veranstaltete dasselbe Getöse wie immer. Doch Frau H. hatte sich fest vorgenommen, es schlichtweg zu ignorieren. Sie würde sich keine Blöße mehr geben vor diesen Tieren. Obwohl sie diese Titulierung als Ungerechtigkeit gegenüber der Fauna empfand. Innerlich genoss sie den Triumph über diese mental wie zivilisatorisch verrottete Bande. 



© drago 2013 

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